
Morgens, bevor die Arbeit beginnt, nehme ich mir fast täglich Zeit für einen Spaziergang. Es ist eine Routine, die geblieben ist, auch wenn ihr ursprünglicher Zweck längst entfällt. Früher bin ich mit dem Hund rausgegangen. Er war der Grund, früh aufzustehen und loszugehen. Jetzt gibt es ihn nicht mehr, aber die Gewohnheit ist geblieben. Vielleicht aus einer gewissen Sentimentalität heraus, vielleicht aber auch, weil mir diese Zeit wichtiger geworden ist, als mir anfangs bewusst war.
Diese Spaziergänge führen mich durch meine Heimatstadt, vorbei an Menschen, die alle irgendwohin müssen. Schüler, die zur Schule gehen, Pendler, die auf den Bus warten, Autofahrer, die schon mit dem Kopf bei der Arbeit sind. Und ich? Ich gehe einfach nur. Ohne Ziel. Ohne Zweck. Ich bin wahrscheinlich der Einzige hier, der nicht irgendwohin will.
Es ist ein seltsames Gefühl, sich einfach treiben zu lassen, während die Stadt um mich herum erwacht. Während andere ihren Tag bereits durchgeplant haben, erlaube ich mir eine Art Zwischenraum – eine mentale Distanz zwischen dem Aufstehen und dem ersten Meeting. Ich will nicht direkt aus dem Bett in die Arbeit stolpern. Ich will diesen Moment dazwischen.
Am Montag war es besonders eindrucksvoll. Es war kalt, und dichter Nebel lag über den Straßen. Eine dieser morgendlichen Stimmungen, die sich nur schwer festhalten lassen. Nebel hat etwas Eigenartiges – er macht die Welt leiser, diffuser, entrückt. Er verschluckt Farben, Geräusche und Details. Vieles, was tagsüber klar erscheint, löst sich im Dunst auf. Vielleicht mag ich ihn gerade deshalb. Er lässt Raum für Vorstellungskraft.

Ich habe versucht, das mit der Kamera einzufangen, aber Bilder können nur einen Teil der Atmosphäre transportieren. Trotzdem sind es mehr geworden als sonst. Besonders fasziniert hat mich das Licht, das durch den Nebel brach – weich, fast körperlos. Als würde die Welt für einen Moment in einer anderen Realität existieren.
Während ich da stand und fotografierte, wurde mir bewusst, wie sehr ich diese kleinen Momente schätze. Kein Hetzen zur Arbeit. Keine ersten E-Mails, keine To-do-Listen im Kopf. Einfach nur draußen sein. An dem Ort, an dem das echte Leben passiert, bevor es in Kalendern und Terminen verschwindet.
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
– Viktor E. Frankl




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